Von
Lesern und Sammlern
Das
Sammeln ist die wohl älteste Kulturtechnik der menschlichen Spezies
und sie hat sich, losgelöst von ihrem ursprünglichen Überlebenswert,
bis in die Gegenwart erhalten. Sammeln erscheint aus sich selbst heraus
als eine sinnvolle Tätigkeit: es häuft Werte an, es schafft
Ordnung, es erzeugt Kennerschaft und es bedeutet mitunter heiße
Leidenschaft: denn abgesehen von Politikern und Liebenden begehrt
niemand heißer als der Sammler: das Entdecken des fehlenden
Stückes, gleich ob es um Briefmarken, Münzen oder Schmetterlinge
geht, erweckt ein ungeheuerliches Glücksgefühl, das erst
mit dem endgültigen Besitz langsam ausklingt und von einer neuen
Begierde abgelöst wird.
Kennen
Sie dieses Gefühl? Ziemlich überflüssige Frage: schließlich
haben Sie doch offensichtlich gerade ein Sammelalbum gekauft, ein
vorerst noch weitgehend leeres Buch, das darauf wartet, das Sie es
füllen werden, indem sie, sorgsam den Anweisungen des Künstlers
Dieter Froelich folgend, Rahmen für Rahmen mit einem Foto bekleben
werden. Vielleicht erinnern Sie sich gerade daran, wie Sie als Kind
ganz aufgeregt und mit heißem Gefühl das lange ersehnte,
einzig noch fehlende Fußballerbildchen aus der Tüte zogen
und es gar nicht abwarten konnten, diese letzte verbliebene Lücke
in Ihrem Sammelalbum zu schließen. Vielleicht denken Sie auch
an die Enttäuschung, die Sie verspürten wenn Sie schon wieder
ausgerechnet den Auswechselspieler aus der Tüte fischten, den
sie sowieso nicht mochten und schon in dreifacher Ausfertigung besaßen.
Vielleicht auch daran, wie Sie auf dem Schulhof mit einem anderen
Schüler feilschten, der das Objekt Ihrer Begierde besaß,
und es nicht eher herauszurücken bereit war, bis Sie fünf
andere gegen dieses eine boten, das Sie unbedingt haben mußten.
Sicher
haben Sie auch anderes gesammelt als Bildchen: Cowboyfiguren, Ritter,
Corgy-Toys-Autos, Barbie-Puppen, Schmetterlinge, Briefmarken, Steine,
Gedichte in Poesie-Alben, Liebesmarken, was auch immer. Womöglich
haben Sie sogar Ihre Leidenschaft als Erwachsener auf hohem Niveau
kultiviert und haben begonnen, zeitgenössische Kunst zu sammeln,
rare Comics, Spritzkeramik oder - in Vertretung der kindlichen Spielzeugautos
— ausgewachsene Oldtimer, und Sie wissen, daß man als
Sammler nicht nur ein Vermögen anhäufen, sondern auch bedenkenlos
hergeben kann, wenn wieder, wie damals auf dem Schulhof, ein kühl
kalkulierender, weil leidenschaftsloser Verkäufer, ihnen einen
weit überhöhten Preis abknöpft für das, was sie
so unendlich gern besitzen möchten.
Schon
damals hatten Sie geahnt, daß auch das Glück des Sammelns
seinen Preis hat: es geht nicht ohne Einsatz, persönlichen und
materiellen, nicht ohne Risiko, nicht ohne Kenner- und Leidenschaft.
Das Sammelalbum selbst ist eine Erfindung des modernen Marktes: im
ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ersannen findige Einzelhändler
die Methode, Bilder auf die Rückseiten ihrer Quittungszettel
zu drucken, und hieraus entwickelte sich rasch jener merkantile Trick,
den man heute „Kundenbindung“ nennt: schließlich
mußte man, einmal der Leidenschaft des Vervollständigens
der Sammlung verfallen, immer wieder zu demselben Kaufmann gehen.
Rasch avancierte das Sammelalbum zu einem verbreiteten Werbemedium,
das von fast allen namhaften Firmen verwendet wurde, um ihre Kunden
bei der Stange zu halten. Übrigens hat auch die Hannoversche
Allgemeine Zeitung das Medium des Sammelbildes lange Zeit verwendet,
so lange nämlich, als die Abonnementsrechnung noch persönlich
von der Zustellerin an der Haustür kassiert wurde: die ausgehändigte
Quittung war auf der Rückseite mit einem Sammelbild versehen.
Im
Lauf der Zeit machte sich das Sammelbild selbständig und löste
sich von dem dazugehörigen Produkt. Es wurde selbst zur Ware:
noch heute finden Kinder an den Kassen der Supermärkte und an
den Kiosken die begehrten Tütchen; jetzt enthalten sie statt
exotischer Tiere, wie zu Zeiten von Liebigs Fleischextrakt, Pokemon-Monster,
Darth Vader oder Han Solo aus der Star-wars-Serie, aber die Sache
ist dieselbe geblieben.
In
den vergangenen Jahrzehnten ist das Sammeln selbst zum Gegenstand
künstlerischen Handelns geworden: Marcel Broodthaers oder Christian
Boltanski haben eine fast unabsehbare Zahl von Vitrinen mit Vogelfedern,
Geldscheinen, Kinderfotos und allem möglichen gefüllt, Joseph
Beuys versammelte mit den „Wirtschaftswerten“. Regale
voller Produkte aus der damals noch real existierenden DDR und entwickelte
später das Konzept der „sozialen Plastik“: die Einbeziehung
des Betrachters in die Herstellung des Werkes. Genau dies ist das
Sammelalbum. Dieter Froelich kultiviert und entwickelt es seit vielen
Jahren als eigenständige Kunstform und vereinigt das Konzept
der sozialen Plastik mit den zentralen Themen seines künstlerischen
Schaffens: die Kindheit und ihre staunenden Erfahrungen, das Sammeln
von Bildern, Worten, Gegenständen, von Reflexionen über
die Möglichkeit des stationären Reisens durch Bilder, Texte,
Reiseberichte und nicht zuletzt das Nachdenken darüber, was Erfahrung
ist: für Froelich immer etwas, was vorab schon von anderen gemacht
und in Form gebracht worden ist. Folgerichtig stellt er mit seinen
Sammelalben immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Abbildung
und Wahrheit: sein Album „Die Alpen“ (1995), das historische
Alpendarstellungen aus Reisebüchern, Filmstills und Reisebeschreibungen
enthält, ist ein Essay nicht über das Gebirge, sondern über
die Bilder, die wir von ihm haben. In seinem Album „Roma. (non
cè)“, für das Froelich den Kodak-Fotobuchpreis 1997
erhalten hat resümiert er seinen einjährigen Aufenthalt
in der Villa Massimo mit der lapidaren Feststellung, daß es
Rom nicht gibt: vor die Erfahrung der Stadt und der Fremde schieben
sich immer schon die Bilder, die unsere Wahrnehmungen vorab mit einem
Rahmen und einer Deutung versehen. Im Sammelalbum kommt dieser melancholisch
stimmende Umstand zu sich selbst: denn sein Ordnungsprinzip ist der
Rahmen und die Deutung qua Bildunterschrift, und in dieses System
müssen und können die Bilder nur noch eingefügt werden.
Mit
dem „Sammelalbum Hannover“ erlaubt sich Froelich einen
im Zeitalter von Internet, e-mail und elektronischen Bildarchiven
ganz altmodisch scheinenden Rückgriff auf ein Medium, das nicht
mittels Bildschirm und Mausklick, sondern mittels Album, Papier, Schere
und Klebstoff funktioniert. Das macht Sinn, denn das Sammelalbum ist
im Unterschied zur unbegrenzten Bilder- und Informationsflut des Internet
absolut begrenzt: es faßt 333 Bilder, nicht eins mehr, und diese
genau begrenzte Menge bildet das Vokabular eines Bildessays über
die Stadt Hannover.
Froelich
greift für diese Arbeit auf das Bildarchiv der Hannoverschen
Allgemeinen Zeitung zurück, das aus ca. 2 Millionen Fotos besteht:
das traditionelle, körperliche Archiv der Papierabzüge umfaßt
ca. 1,5 Millionen Fotos, das modernere, digitale Archiv bleibt dahinter
einstweilen mit einer halben Million Fotos noch deutlich zurück,
aber das wird durch das Fortschreiten der Zeit und das Anwachsen der
Bilderflut schnell ausgeglichen werden. Archive jeglicher Art sind
Erinnerungsspeicher; und seit es die Fotografie gibt, verfügen
wir über ein Gedächtnismedium, das uns einen ganz direkten
Abdruck von einer vergangenen Wirklichkeit zu liefern verspricht.
Ein Fotoarchiv wie das der HAZ läßt sich also als ein gigantisches
Bildgedächtnis beschreiben. Aus dessen schier unüberschaubarer
Menge an Bildern hat Froelich für das vorliegende Sammelalbum
zunächst etwa 1000 ausgewählt, thematisch gruppiert und
in ein subtiles Verweissystem geordnet: Stadt, Menschen, Industrie,
Nahrung, Tiere, Museen, Handel, Verkehr, Messe, Polizei und Hochschulen
bilden seine Ordnungsbegriffe, unter die Gebäude, Porträts,
Skulpturen usw. sortiert und in Bezug zueinander gesetzt werden.
Für
die gesamte Dauer der EXPO 2000 wird einmal wöchentlich in der
HAZ ein Bilderbogen zum Sammelalbum erscheinen. Nicht zufällig
beginnt das Album mit dem Bild eines Modells der Stadt, nicht mit
einem Bild der Stadt: So wie die schließliche Endauswahl von
333 Bildern aus der Fülle von 2 Millionen nur eines von unendlich
vielen möglichen Modellen des Bildgedächtnisses der Stadt
Hannover darstellt, so subjektiv wie übersichtlich, so bietet
das Modell der Stadt den Vorzug der Uberschaubarkeit um den Preis
von Vollständigkeit und Genauigkeit, ja, um den Preis von Wirklichkeit.
Denn
die ist nun mal nicht wirklich zu haben: 333 Bilder, das sind nicht
einmal 0,02 Prozent der 2 Millionen, die das Bildarchiv der HAZ umfaßt,
aber auch diese 2 Millionen sind, gemessen an all den Bildern, die
es zu dieser Stadt, ihren Einwohnern, ihrer Geschichte gibt, nur ein
verschwindend kleiner Ausschnitt. Und jedes der existierenden Bilder
von Hannover ist nur ein stillgestellter, perspektivischer und höchst
artifizieller Ausschnitt von etwas, das das menschliche Auge vielleicht
unschärfer, aber doch auch weit komplexer erfassen würde.
Obwohl es nur eine Sicht bietet und alle anderen ausschließt,
hat sich gerade das Foto zum wichtigsten Medium von Erinnerung und
Tradierung entwickelt: Fotos bilden einen ständig anwachsenden
persönlichen und gesellschaftlichen Gedächtnisbestand der
jederzeit jeden Rückgriff auf die Vergangenheit zu ermöglichen
scheint. Die Vollständigkeit des Bildgedächtnisses ist aber
Illusion — zu genau wissen wir inzwischen, daß Bilder
lügen können, wenn sie in Zusammenhänge eingefügt
werden, zu denen sie nicht gehören, wenn sie per Photoshop beliebig
verändert werden, wenn sie Idyllen zeigen, wo in Wirklichkeit
Not und Chaos herrschen, und Not und Chaos, wo in Wirklichkeit gar
nichts weiter geschieht.
Aber
was ist denn die Wirklichkeit? Schon längst läßt sich
in unserer Erfahrung kaum mehr auseinanderhalten, was wir selbst erlebt
und was wir nur gezeigt bekommen haben. So verfügen wir ja über
sehr plastische Bilder beispielsweise aus dem Kosovo oder aus Vietnam,
auch wenn wir nie dort gewesen sind, schon gar nicht, als sich die
Ereignisse abgespielt haben, die unsere Aufmerksamkeit gerade wegen
der schrecklichen Bilder fesselten. Und kann nicht sogar die Erfahrung
unseres eigenen Selbst dadurch verändert werden, das wir uns
mehr oder minder zufällig in einem Massenmedium abgebildet sehen?
Nicht umsonst werden in dem meisten Familienalben die Zeitungsausschnitte
aufbewahrt, auf denen eines der Familienmitglieder zu sehen ist -
gerade die Veröffentlichung eines Porträts scheint eine
größere Bedeutung für die Abgebildeten zu besitzen
als das private Foto, das außer den engen Freunden oder Verwandten
niemand zu Gesicht bekommt.
Fotos
bilden also nicht nur Wirklichkeit ab, sondern schaffen auch Wirklichkeit,
und niemand hat das früher erkannt als Diktatoren und ihre Propagandaministerien,
die die manipulative Kraft der für ihre Erfindungen von Geschichte
und ihre Versionen der Gegenwart einsetzten.
Das
Gedächtnis braucht die Bilder, an die sich die Geschichte als
erinner- und erzählbare knüpft, und es gibt zwar Bilder
ohne Geschichte, aber keine Geschichte ohne Bilder. Dieter Froelich
bebildert mit seinem Sammelalbum seine höchst subjektive, keinesfalls
aber zufällige Sicht auf die Stadt Hannover, ihre Geschichte
und ihr Bildgedächtnis. Beiläufig weist er darauf, daß
es vorwiegend die unspektakulären, gewöhnlichen Elemente
sind, die die Grundierung unserer Alltagswahrnehmung einer Stadt bilden:
unbekannte Personen, unauffällige Gebäude, tägliche
Routinen, einkaufen, essen, arbeiten usw. Es ist das Wesen einer Tageszeitung,
daß sie nicht nur Großereignisse von überregionaler
Bedeutung abbildet, sondern eben auch lokale, ganz und gar unbedeutende
Klein- und Kleinstereignisse: ein Jubiläum, ein Fahrradunfall,
ein Mißgeschick, was auch immer. All diese auf den ersten Blick
belanglosen und kaum erinnerbaren Fotos transportieren jenseits des
dokumentierten Ereignisses immer auch einen Subtext: Immer sind sie
auch Bilder aus und über Hannover und zeigen gerade in der Gesamtschau
ein Gepräge, das nur dieser Stadt eigen ist: die Textur des Gedächtnisses
einer Stadt.
Indem
Froelich diese Textur webt und seine Verknüpfungen vom Porträt
zur Skulptur zum Zootier zum Museum usw. vornimmt, erzählt er
eine Bildergeschichte der Stadt, einen fotografischen Essay. Als Sammler
haben Sie an der allmählichen Verfertigung dieses Essays teil,
und vielleicht erleben Sie ja mit dem zwanglosen Glück des Sammelns
zugleich auch ihre Stadt noch einmal ganz neu. Das Sammelalbum als
Essay über die Stadt ist nur ein Vorschlag, wie man sie beschreiben
könnte. Die subjektive und pointierte Auswahl aus dem Gedächtnis
der Bilder Hannovers, die Froelich vornimmt, kann der Sammler natürlich
ganz unterschiedlich gebrauchen: Sie können ja alle diese Seiten
leer und unberührt lassen, weil sie lieber 333 andere Bilder
aus der täglichen HAZ für ihr persönliches Hannover-Archiv
ausgewählt hätten, Sie können auch nur das einkleben
was Ihnen gefällt und den Rest mit anderen Bildern füllen
oder Sie können den Raum zwischen dem ersten und dem letzten
Bild offenlassen und sich ihr eigenes Bildgedächtnis von Hannover
imaginieren oder auch gegen die Weisung des Künstlers jedes Bild
so einkleben, wie Sie es für richtig halten: Dieses Gedächtnis
der Bilder wäre schließlich ein Kaleidoskop der unendlichen
Kombinierbarkeit, und mit jeder Zusammenstellung ergäbe sich
ein neuer Essay.
Harald
Welzer
Hannover
2000